Gucky

Kleiner grauer Staubschmeißer

Gucky nannte ich ihn, wegen seiner riesengroßen Augen, und er traf an einem Karsamstag ein. - "Nehmt ihn oder ich schmeiß' ihn ins Osterfeuer!" sagte der Mensch, der seinen Käfig auf unseren Küchentisch setzte.

In diesem Käfig saß ein großes, graues, eichhörnchen-artiges Tierchen aufrecht, mit riesigen Augen, wie versteinert vor Angst. So zog Gucky bei uns ein. Wir richteten einen Platz in der Wohnküche für ihn ein und dann setzte ich mich hin und sprach zwei Stunden leise auf ihn ein und hauchte ihn dabei sanft an, bis er sich endlich bewegte. Vorsichtig kam er zu mir und beschnupperte mein Gesicht und kitzelte mich mit seinen unendlich langen Schnurrbarthaaren. Von da an gehörten wir zusammen, der Chinchilla und ich.

Gucky war der letzte Überlebende einer mißglückten Pelztierzucht. Zu dieser Zeit legten sich bei uns viele Leute Chinchillapärchen zu in der Hoffnung, mit ihren Fellen viel Geld zu verdienen. Meist waren die Tierchen miserabel untergebracht, oft in Kellern ohne natürliches Licht, und wie die Gefährten unseres Gucky gingen die meisten elend zugrunde. Unser kleiner Mann überlebte; er war drei Jahre alt, als wir uns kennenlernten. Uns aber stellte sich die Frage: wie pflegt man einen Chinchilla? Mein erster Weg führte mich in eine Tierhandlung, dort erfuhr ich Näheres.

Für Leute, die's nicht wissen: Gucky bekam Pellets, eine gepreßte, mit allen nötigen Zusatzstoffen angereicherte Trockennahrung, frisches Wurzelgemüse und Obst, Haferflocken und als Leckerbissen Rosinen und Nüsse und natürlich stets frisches Wasser. Außerdem brauchte er sein tägliches Bad, aber nicht in Wasser, sondern in Sand! Ich konnte nirgends Chilesand auftreiben, daher besorgte ich weißen Vogelsand und gemahlenen Bimsstein, mischte das in einem bestimmten Verhältnis und füllte seine Badewanne an. Und dann ging es los! Erst grub er mit beiden Händchen fest Sand unter sich, dann warf er sich hinein und wälzte sich darin, der Staub flog durch den ganzen Raum - unser Gucky stand wieder auf und schüttelte sich kräftig - pufffff! Seine Ilse holte stillschweigend den Staubsauger ...

Tagsüber war er sich selbst überlassen, nur Mutti hielt ein Auge auf ihn. Meist döste er ruhig vor sich hin. Abends aber, wenn ich von der Arbeit kam, da durfte er raus und in meinem Zimmer frei laufen. Am liebsten benützte er mich als Kletterbaum. Oft saß er auf meiner Schulter und putzte sich: links kitzelte mich sein Schnurrbart, rechts sein buschiger Schwanz (oder umgekehrt). Chinchillas sind Nagetiere, trotzdem hat er eigentlich fast keinen Schaden an meinen Möbeln angerichtet. Manchmal büchste er auch aus, er hatte schnell gelernt, wie man das Käfigtürchen aufmacht. Einmal schlief er friedlich an den Bauch unserer Airedaleterrier-Hündin Lady gekuschelt - sie lag ganz still, um ihr Baby ja nicht zu wecken! Ein andermal hatte er sich die Kokskiste als Ruheplatz ausgesucht und sah entsprechend aus. Ein drittes Mal war er die Holzstiege zu meinem Zimmer hinaufgeklettert und traute sich nicht mehr runter. Aber er war nie lange ohne Aufsicht und Hilfe, meine Mutter war zu Hause und spielte regelmäßig Suchkommando.

Unser Gucky war ein sanftes Geschöpf, aber er haßte Fliegen. Eine dicke Fliege summte durch seinen Käfig und da sahen wir das erste und einzige Mal rote Mordlust in seinen sonst so schönen Augen. Er saß da wie ein lauernder Mörder, aufrecht wie ein Murmeltier, die Händchen zum Fang bereit und rote Wut in den großen Augen. Vielleicht hat's die Fliege gemerkt, jedenfalls kam sie nicht mehr zurück.

Käse mochte er auch nicht. Bei diesem Geruch schüttelte es ihn von den Schnurrbartspitzen bis zum Schwanzspitzchen vor Grausen. Das konnte Mutti nicht recht verstehen, wurde ihr Gucky doch als "Andenmaus" vorgestellt - und Mäuse mögen Käse, oder? Zu dieser Zeit wußte bei uns noch niemand was über Chinchillas. Sie waren recht exotische Hausgenossen.

Wie gesagt, Gucky war sehr sanft und lieb. Außer mir (Mutti auch nur vertretungsweise) durfte ihn aber niemand anfassen, sonst warf er die Haare büschelweise ab. Besucher steckten - meiner eindringlichen Warnung zum Trotz - gern den Finger in sein Haus und waren recht empört, wenn er sie biß. Das tat er nämlich gern, solch aufdringliche Leute mochte er nicht. Er konnte gut beißen, wie ich auf diese Art merkte, bei mir machte er so etwas nie.

Lange Zeit wußte ich nicht, wie sehr er mir verbunden war. Dann mußte ich einmal eine einwöchige Dienstreise machen. Ich verabschiedete mich ordentlich von ihm und übergab ihn der Obsorge meiner Mutter. Sie pflegte ihn auch hingebungsvoll und mit großer Sorgfalt und vor allem: Regelmäßigkeit (ganz so genau war das bei mir nicht!). Als ich nach fünf Tagen zurückkam, war mein Gucky schwer beleidigt. Er redete nicht mehr mit mir, steckte seinen Kopf in einen Winkel und drehte mir immer sein Hinterteilchen zu, ganz egal, in welche Richtung ich ging. Ich hatte eine gute Stunde zu tun, ihn wieder gutzuschmeicheln!

Tricks verfingen bei ihm nur einmal, ein zweites Mal war er nicht reinzulegen. Eine Rosinenstraße zum Einfangen funktionierte leider nur ein einziges Mal; das nächste Mal machte er außer Reichweite Halt und verzichtete lieber auf die restlichen Leckerbissen. Allerdings: als er wußte, daß er regelmäßigen Ausgang hatte, kam er bald von selbst und holte sich Nüsse und Rosinen aus der Hand.

Gucky lebte fünfzehn Jahre bei mir, er wurde achtzehn Jahre alt. An seinem letzten Abend wollte er nicht mehr in sein Haus zurück, ich hielt ihn in den Armen, da überfiel mich die furchtbare Gewißheit: es ist so weit. So richtete ich ihm ein weiches Plätzchen bei mir - er brauchte die ganze Nacht zum Sterben, es war furchtbar. Aber er war nicht krank, nur einfach alt. Morgens mußte ich wieder zur Arbeit - ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen - und mein Vater übernahm es, ihm eine letzte Ruhestätte einzurichten.

Ruhe sanft, mein lieber, kleiner, unvergeßlicher Freund!